Was verstehen Sie unter einer „Plattform“?
Marco Henkel: Unter einer Plattform verstehen wir die Basis eines offenen Ökosystems, das sowohl Hardware als auch Software, Dienstleistungen und Lösungen umfasst. Also das, was unsere Kunden benötigen, um erfolgreiche Automatisierungslösungen umzusetzen. Der Begriff “Plattform” lässt sich allerdings schwierig abgrenzen, da sich beispielsweise eine Datenaustauschplattform von einer Entwicklungsplattform unterscheidet. Was sie jedoch miteinander gemein haben: Sie definieren Standards und legen Rahmenbedingungen fest, sodass unterschiedliche Teilnehmer zum einen definierte Nutzungskriterien haben und zum anderen einen Mehrwert für ihren jeweiligen Anwendungsfall daraus ziehen können.
Mit offenen Plattformen auf dem Weg zum Android der Automation
Wie heißt Ihre Plattform und können Sie diese mit ihren wesentlichen Eigenschaften kurz vorstellen? Wie funktioniert sie technisch? Welche Technologien, Standards etc. nutzen Sie?
Henkel: Im Bereich der IT-OT-Integration eröffnen wir Anwendern grenzenlose Möglichkeiten: Unsere Steuerungsplattform mit den bekannten Vertretern, dem PFC200 und dem Compact Controller 100, basieren seit jeher auf einem echtzeitfähigen Linux-Betriebssystem, das dem Anwender die Möglichkeit der flexiblen Erweiterung nach seinen Anforderungen bietet.
Die Wago Solutions Platform richtet sich hingegen an Anwender, die vorgefertigte Lösungen (z. B. Licht- oder Energiedatenmanagement) einfach und schnell auf ihre Steuerungen laden wollen. Darüber hinaus integriert Wago als erster System- und Technologiepartner von Bosch Rexroth ctrlX OS auf ausgewählten Steuerungen, sodass Anwender von der Vielzahl an Apps der ctrlX World profitieren können.
Was unterscheidet Ihren Ansatz von anderen Ansätzen (USP)? Und wo gibt es Gemeinsamkeiten?
Dirk Volkening: True Openess ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal. Die Aufgaben der IT-OT-Integration sind mannigfaltig, die Konvergenz hat aus jeder Betrachtungsrichtung heraus unterschiedliche Anforderungen. Die Offenheit von der untersten Schicht herauszudenken, ermöglicht maximale Flexibilität und größtmöglichen Nutzen. Wir von Wago ermöglichen auf Basis der Hardware die für den Bedarfsfall richtige Plattform und das damit zur Aufgabenstellung passende Angebot zu wählen. Im Grunde genommen bildet somit die Hardware die Plattform, da nicht nur die Steuerung, sondern auch die I/O-Komponenten für sich einen individuell ausprägbaren Lösungsraum anbieten. Gemeinsamkeiten findet man bei der Nutzung von Shared Services, z. B. bei der Verwendung von Docker.
Wo sehen Sie die Vorteile von offenen Plattformen, beispielsweise hinsichtlich OT/IT-Integration, Realisierung von App-Konzepten oder Hardware-Unabhängigkeit und-Flexibilität?
Volkening: Offene Plattformen erweitern den Lösungsraum und schaffen Mehrwerte: Vor allem das App-Konzept bietet die Möglichkeit, Automatisierungsprojekte effizient zu strukturieren und zu vereinfachen. In der Regel besteht ein Projekt aus einer Anzahl unterschiedlicher Aufgaben, wie z. B. dem Steuerungsteil, wo es auf Deterministik ankommt, der Visualisierung, den kommunikativen Teil zu einer höheren Automatisierungsschicht und ggf. auch die Anbindung sowie der Datenaustausch zu einer IoT-Plattform oder Cloud-Lösung. Unsere Kunden können für die jeweilige Teilaufgabe die passende App auswählen und so die Effektivität bei der Entwicklung und die Wiederverwendung der Teilkomponenten steigern.
Wie lassen sich die teilweise hohen Anforderungen der Automatisierungstechnik (OT) mit der IT-Welt verbinden – OT-Echtzeit und IT-Echtzeit sind ja nicht deckungsgleich? Kann eine OT-IT-Plattform wirklich beide Welten verbinden?
Henkel: Ein ganz klares „JA!“. Die Grundlage bilden die Hardware und das Betriebssystem. Sind beide in der Lage, Echtzeitanforderungen zu bedienen, dann lassen sich darauf die jeweiligen Anforderungen aus OT und IT ausprägen. Echtzeit ist dabei immer ganzheitlich zu sehen; es kommt hier nicht nur auf die Geschwindigkeit, sondern auch auf die Deterministik und Äquidistanz an. Die Symbiose aus Prozessor, Kommunikations- und Speicheranbindung sowie die Unterstützung durch das Betriebssystem sind essenziell für den Erfolg in der Anwendung. Genau hier liegt auch die Stärke des ctrlX Automation Ökosystems: Es ist für den Real-Time-Einsatz im industriellen Umfeld konzipiert und auf allen Ebenen einsetzbar – von der Feldebene bis in die Cloud.
Lässt sich diese Verbindung technisch über „offene Steuerungen“ realisieren oder eher über eine Zusatz-Schicht („offene Middleware“), die zwischen OT und IT sowie zwischen verschiedenen Systemen vermittelt?
Volkening: Beide Wege sind möglich, haben aber natürlich einen applikativen Charakter. Das Schöne an der offenen Wago-Welt ist, dass es viele unterschiedliche Wege gibt, um an das Ziel zu kommen. Je nach Know-How unserer Kunden kann das Linux basierte oder das höher integrierte ctrlX OS basierte Betriebssystem der richtige Ansatz sein. Beide Plattformen bieten sowohl echtzeitfähige als auch event-basierte Komponenten und damit können beide Plattformen sowohl auf Steuerungsebene als auch auf Middleware-Ebene eingesetzt werden.
Was bedeutet das für das Engineering? Wie können Produkt- und Produktionsentwicklung profitieren?
Henkel: Durch ein gemeinsames Vorgehen, gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung der Domänen sowie deren Besonderheiten ist eine bessere Lösung für die Anwendung erzielbar. Gerade im Engineering gilt es festzulegen, für welche Aufgabenstellung welches Werkzeug einzusetzen ist. Ein „one tool fits all“-Ansatz ist bei der heutigen Komplexität der Aufgabenstellung sicherlich nicht die beste Wahl. Die App-basierte Plattform bietet den Vorteil, dass die Programmierumgebungen gezielt dort eingesetzt werden, wo sie ihre Stärken und den Fokus haben. Dies beschleunigt die Realisierung von Automatisierungsprojekten. Ebenso lässt sich auf diese Weise die Wiederverwendbarkeit von Softwarekomponenten steigern. Das ist ganz im Sinne der Profitabilität, da sich so Szenarien (z.B. modulare Anlagen, variable Gebäudekonzepte, flexible Fertigungen) besser und in der Regel fehlerärmer umsetzen lassen.
Wird der Automatisierer auf Dauer von IT-Spezialisten „ersetzt“ und wird mit den offenen Plattformen die Steuerungsprogrammierung entsprechend IEC 61131–3 auf Dauer hinfällig – oder nur entsprechend von der IT-Seite kommend „übersetzt“?
Volkening: Durchaus sehen wir in einigen Bereichen die immer stärker werdende Verschmelzung von OT und IT. Einen Trend, dass die IEC 61131–3 Welt wegfällt, können wir nicht feststellen, eher dass OT und IT in Automatisierungsprojekten enger zusammenarbeiten. Häufig werden Projektteams mit Mitgliedern aus IT und OT gebildet, um für das jeweilige Projekt die besten Möglichkeiten für einen langfristigen Projekterfolg auszuloten.
Welche Rolle spielt bei dem Plattform-Gedanken die Offenheit nicht nur gegenüber OT- bzw. IT-Systemen Dritter, sondern auch gegenüber vergleichbaren Plattformansätzen von Marktbegleitern? Entsteht auf Dauer eine gemeinsame offene interoperable Plattform über Standardisierung oder über Kooperationen oder durch Marktdominanz („the Winner takes it all“)?
Volkening: Kooperation und Co-Creation haben bei Wago eine lange, historische Bedeutung. Mit dem IoT-Partnernetzwerk und dem Solution Provider Programm pflegt Wago seit etlichen Jahren eine Community, um die zunehmende Komplexität von Automatisierungsprojekten zu meistern. Mit dieser offenen Denkweise sind wir auch in die Partnerschaft des ctrlX Automation Ökosystems eingezogen und glauben daran, dass sich zukünftig einige, wenige Plattformen am Markt durchsetzen werden. Eine Marktdominanz im Sinne von „the winner takes it all“ sehen wir nicht, ein „survival of the fittest” hingegen schon.
Auf der technischen Ebene: Welche Rolle spielen im Zusammenhang mit dem Thema Offenheit speziell Open-Source-Lösungen bzw. Betriebssysteme wie Linux sowie der Datenaustausch via OPC UA – das OPC steht dabei ja bereits für „Open Platform Communications“?
Henkel: Die Offenheit einer Plattform muss nicht zwingend mit der Offenheit des Quellcodes einhergehen, auch „Closed-Source-Software“ kann und wird einen wesentlichen Beitrag zu erfolgreichen, offenen Plattformen leisten. So sind die meisten Apps in den App-Stores der Plattformen Closed Source, auch wenn die Plattform selbst auf einem Open-Source-Betriebssystem fußt oder selbst Open Source ist. Offene Kommunikationsstandards werden benötigt, um in den heterogen besetzten Anwendungsfeldern mit „einer gemeinsamen Sprache“ zu interagieren. Dort hat sich OPC UA sicherlich nicht zu Unrecht einen guten Namen gemacht, wenngleich auch hier die Offenheit nicht mit „Open Source“ gleichzusetzen ist.
Kann bzw. wird sich über offene Plattformen eine Art „Android der Automation“ entwickeln, das auf verschiedenen Hardwareplattformen (Maschinen, Robotern) läuft?
Henkel: Das ist bereits jetzt Realität. Das ctrlX OS läuft auf Rexroth Hardware als auch auf Wago Hardware, genau wie die Apps. Mit einer offenen Plattform können Anwender die Komplexität ihrer Projekte reduzieren und damit einhergehend eine Arbeitsersparnis erzielen. Wir sind zuversichtlich, dass sich diese Idee zukünftig weiter durchsetzen und sich noch stärker ausprägen wird. Auch sozioökonomische Einflussfaktoren, wie z.B. der Fachkräftemangel, zwingen dazu, sich um eine – nennen wir es – Standardisierung von gemeinsam genutzten Diensten Gedanken zu machen, damit die Instandhaltung der Anlagen aus unterschiedlichen Bereichen über die Nutzungszeit beherrschbar bleibt.
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