Was verstehen Sie unter einer „Plattform“?
Melzer: Viele verstehen eine Plattform nur unter technischen Gesichtspunkten. Wir bei Siemens sehen das umfangreicher. Uns ist wichtig, auch eine offene Businessplattform bereitzustellen, die für unsere Kunden Lösungen von Siemens und Partnern bietet.
Mit offenen Plattformen auf dem Weg zum Android der Automation
Wie heißt Ihre Plattform und können Sie diese mit ihren wesentlichen Eigenschaften kurz vorstellen?
Melzer: Siemens Xcelerator ist unsere offene Businessplattform für die digitale Transformation in der Industrie. Unser Ziel ist eine einfache, offene und flexible Herangehensweise, um aktuelle und zukünftige Herausforderungen der Industrie zu lösen. Mit Siemens Xcelerator bieten wir daher ein robustes Ökosystem für Anbieter und Entwickler von interoperabler Software und Hardware. Die technischen Design-Prinzipien sind dabei Interoperabilität, Flexibilität, Offenheit und „as-a-Service“.
Siemens Xcelerator bietet verschiedene Lösungen für unterschiedliche Einsatzzwecke. Industrial Operations X ist dabei unser Portfolio für alle Aspekte der digitalen Produktion, industrielle Betriebsabläufe und Automatisierung. Die Kernelemente von Industrial Operations X ermöglichen unseren Kunden die Transformation heute schon hochautomatisierter Produktionssysteme hin zu adaptiven und agilen Produktionssystemen:
- Statt fest verdrahteten Automatisierungslösungen ermöglicht eine datengetriebene Konzeption jederzeit Erweiterungen, Optimierungen, Anpassungen auf neue Produkte und vieles mehr. At your Fingertipps.
- Software-definierte Automation erlaubt eine viel höhere Skalierbarkeit, Flexibilität und Performance im Maschinen- und Anlagenbau.
- Neue IT-orientierte Engineering-Systeme erlauben eine um Faktoren höhere Effizienz beim Engineering
- Ein offenes Ökosystem mit einer interoperablen Plattform für Edge- und Cloud-Umgebungen erlaubt die Integration von IT-Funktionen in OT-Umgebungen mit allen Echtzeit-, Security- und Verfügbarkeitsanforderungen, die in der OT-Welt essentiell sind.
Was unterscheidet ihren Ansatz von anderen Ansätzen (USP)? Und wo gibt es Gemeinsamkeiten?
Melzer: Industrial Operations X baut auf dem führenden Siemens Totally Integrated Automation Portfolio auf, erweitert es aber in eine neue Dimension. Mit einem umfassenden Portfolio von Hardware und Software, einem Ökosystem aus Produkten von Siemens und von anderen führenden Anbietern machen wir die Digitalisierung der Industrie einfach:
- z. B. bietet unser Industrial Edge System, als eine Art iPhone der Industrie, die einfache Integration von IT, Künstlicher Intelligenz und weiteren Softwarefunktionen in die Automatisierung.
- Mit unserer neuen virtuellen PLC Simatic S7 1500 schaffen wir die Basis für eine Software-definierte Automation und die Entkopplung von Hardware und Software.
- Produkte wie der Industrial Information Hub (IIH) für das Daten- und Asset-Management ermöglichen eine datengetriebene Produktion. Mit Hilfe von semantischen Modellen können Produktionsdaten aus dem gesamten Unternehmen erfasst werden. Damit sind völlig neue Optimierungsszenarien möglich und eine Automatisierung und Integration von allen Elementen der Produktion weit über den heutigen Umfang in der Automatisierung hinaus.
Im Einsatz bei unseren Kunden hat Industrial Operations X schon bewiesen welche erheblichen Vorteile es bietet. Beispielsweise können wir in einer bestehenden Endmontage eines führenden Automobil-Hersteller durch den Einsatz von Industrial Edge, IIH und unseren Analytik-Applikationen den Output über eine Cycle-Time-Analyse um mehr als 10% steigern. Eine erhebliche Produktivität mit minimalem Invest auf Basis eigentlich bereits existierender Daten.
Und das ist erst der Anfang. Mit der Vernetzung der verschiedensten digitalen Zwillinge in einem Unternehmen zu einem konsistenten Modell werden wir die vollen Vorteile einer datengetriebenen Produktion ermöglichen und das Industrial Metaverse Realität werden lassen.
Auch der Einsatz von Software-definierter Automation bringt jetzt schon erhebliche Skalierungsvorteile. Die Kombination verschiedener Funktionen auf einem Gerät wie z. B. unsere virtuelle S7, WinCC Unified und Industrial Edge ermöglichen kostenoptimierte Lösungen – vor allem auch mit einem reduzierten Aufwand durch ein automatisches Management von Hardware und Software und damit eine wesentlich bessere Total-Cost-of-Ownership.
Wo sehen Sie die Vorteile von offenen Plattformen (OT/IT-Integration? Realisierung von App-Konzepten? Hardware-Unabhängigkeit/Flexibilität?)?
Melzer: Industrial Operations X ermöglicht die nahtlose Datenintegration, bietet ein breiteres Spektrum an Kompetenzen und erlaubt die einfachere Aktualisierung und Implementierung neuer Funktionalitäten und Apps sowie die Erweiterung existierender Automatisierungslandschaften (unabhängig vom Hersteller).
Hierbei legen wir besonderen Wert auf die Nutzung moderner IT-Technologie und offenere Standards, die wir aber für die Nutzung in der OT-Welt härten. Z. B. ist die Basis für unser Industrial Edge System ein von uns speziell gehärtetes Linux-System, aber mit einer Standard-Container-Technologie. WinCC Unified ist komplett auf modernen und offenen IT-Standards aufgebaut, wie HTML5, SVG, JavaScipt, Rest-APIs, … OPC UA spielt eine entscheidende Rolle in unserer Kommunikationsarchitektur, u.v.m.
Wie lassen sich die teilweise hohen Anforderungen der Automatisierungstechnik (OT) mit der IT-Welt verbinden – OT-Echtzeit und IT-Echtzeit sind ja nicht deckungsgleich? Kann eine OT-IT-Plattform wirklich beide Welten verbinden?
Melzer: Ja, sie kann, das ist gerade der Ansatz von Industrial Operations X. Wir bringen IT in die OT, mit der in der Industrie wichtigen Echtzeitfähigkeit, Verfügbarkeit, Security und Robustheit. Ein gutes Beispiel dafür ist unser Industrial-grade KI-Portfolio.
Lässt sich diese Verbindung technisch über „offene Steuerungen“ realisieren oder eher über eine Zusatz-Schicht („offene Middleware“), die zwischen OT und IT sowie zwischen verschiedenen Systemen vermittelt?
Melzer: Beides: Mit Industrial Edge und unserer S7–1500 virtuellen PLC bieten wir eine offene Steuerung und z. B. mit unserem Industrial Information Hub auch eine Middleware, die Daten aus verschiedensten Quellen integriert und zusammen mit unserem neuen webbasierten WinCC Unified SCADA System oder unserem webbasierten Prozessleitsystem PCSneo für die Prozessindustrie die optimale Basis für eine modulare Edge- oder Cloud-basierte Produktionsplattform bietet.
Was bedeutet das für das Engineering? Wie können Produkt- und Produktionsentwicklung profitieren?
Melzer: Eine der großen Herausforderungen der produzierenden Industrie ist der Fachkräftemangel. Auf der anderen Seite bieten moderne Software- und IT-Konzepte eine wesentlich höhere Produktivität. Mit unseren dafür optimierten Engineering-Systemen Simatic AX und WinCC Unified Elements bieten wir ein optimales Engineering für die Generation der IT-Fachleute und ermöglichen ein Closed-Loop-Manufacturing.
Mit unserem auf der Hannover Messe 2023 erstmals gezeigten Industrial Co-Pilot wird Engineering auf Basis von generativer KI um Faktoren effizienter. Und das optimal eingebunden in unser TIA-Portfolio inklusive unserem Engineering-Framework, das TIA-Portal.
Wird der Automatisierer auf Dauer von IT-Spezialisten „ersetzt“ und wird mit den offenen Plattformen die Steuerungsprogrammierung entsprechend IEC 61131–3 auf Dauer hinfällig – oder nur entsprechend von der IT-Seite kommend „übersetzt“?
Melzer: Wir sehen kein „entweder IT oder OT“. Mit Industrial Operations X kombinieren wir ja gerade IT und OT. Wir unterstützen weiterhin IEC 61131, aber gleichzeitig auch die Programmierung in anderen IT- orientierten Sprachen und nutzen gleichzeitig die Power von IT-Systemen.
Welche Rolle spielt bei dem Plattform-Gedanken die Offenheit nicht nur gegenüber OT- bzw. IT-Systemen Dritter, sondern auch gegenüber vergleichbaren Plattformansätzen von Marktbegleitern? Entsteht auf Dauer eine gemeinsame offene interoperable Plattform über Standardisierung oder über Kooperationen oder durch Marktdominanz („the Winner takes it all“)?
Melzer: Mit Industrial Operations X bieten wir Offenheit in allen Dimensionen. Wir öffnen die Plattform für andere Anbieter, unterstützen dabei offenen Standards und treiben diese voran. Wir sehen die Interoperabilität über verschiedenen Anbieter als entscheidend, um die Industrie einen erheblichen Schritt weiter voranzubringen. Hier geht es auf keinen Fall um „the Winner takes it all“, sondern um Win-Win Konstellationen, für alle Teilnehmer des industriellen Ökosystems.
Auf der technischen Ebene: Welche Rolle spielen im Zusammenhang mit dem Thema Offenheit speziell Open-Source-Lösungen bzw. Betriebssysteme wie Linux sowie der Datenaustausch via OPC UA – das OPC steht dabei ja bereits für „Open Platform Communications“?
Melzer: Ja, wir unterstützen offenen Standards und treiben sie voran. Linux und OPC UA sind hier zwei prominente Beispiele und die Basis vieler unserer Produkte.
Kann bzw. wird sich über offene Plattformen eine Art „Android der Automation“ entwickeln, das auf verschiedenen Hardwareplattformen (Maschinen, Robotern) läuft?
Melzer: Ja, unser Industrial Edge System als Kernbestandteil von Industrial Operations X ist so eine Plattform. Flexibel für verschieden Hardwareplattformen, aber auch offen für Applikationen von verschiedenen Herstellern.
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