Einst war sie mit Wegbereiter der industriellen Revolution – heute steht die Textil- und Bekleidungsindustrie an der Weggabelung einer weltweiten Umstrukturierung. Wie die Einführung der mechanischen Webstühle im Übergang zum 19. Jahrhundert die Branche und ganze Gesellschaftsordnungen komplett auf den Kopf gestellt hatte, markiert heute die Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelten eine Zeitenwende.
Dieser Wandel erhält zusätzlich Dynamik durch das Streben nach Nachhaltigkeit und die vom Gesetzgeber eingeforderten Sozialstandards. Dies führt aktuell auch zu einem Um- und Neudenken in der Textilproduktion, in der weltweit etwa 75 Millionen Menschen beschäftigt sind, überwiegend in Asien unter oft sehr fragwürdigen Arbeitsbedingungen.
Textilproduktion neu gedacht
„An der Textilherstellung war die Automatisierung bisher mehr oder weniger spurlos vorbeigegangen – das ändert sich gerade. Denn die Automation schafft die entscheidende Voraussetzung, dass die Produktion wieder näher an die jeweiligen Absatzmärkte heranrücken und damit effizienter und vor allem nachhaltiger werden kann“, sagt Michael Fraede, Gründer und Geschäftsführer von Robotextile.
Seit über 30 Jahren ist Michael Fraede in der Robotik zu Hause. Gemeinsam mit Michael Müller, dem Geschäftsführer der Erler GmbH aus dem schwäbischen Dormettingen, hat er eine speziell auf die Textilproduktion zugeschnittenes Robotersystem entwickelt und auf dieser Basis Robotextile gegründet. Das Ziel: maximale Flexibilität in den Nebenprozessen – also dem gesamten Handling neben dem eigentlichen Nähvorgang.
Ein anspruchsvoller (Werk-)Stoff
Gemeinsam mit Wissenschaftlern vom Forschungsinstitut für Textil und Bekleidung der Hochschule Niederrhein gingen Michael Fraede und Michael Müller speziell ein Problem an, für das Automatisierer zuvor keine keine wirtschaftlichen Konzepte vorlegen konnten: die Handhabung von biegeschlaffen, also leicht verformbaren, flexiblen Textilien und Schnittteilen.
„Dies ist für einen Roboter etwas ganz anderes als die Handhabung von festen Werkstoffen wie Holz oder Stahl – eine Herausforderung, aber keine Unmöglichkeit“, weiß Professorin Maike Rabe, die das Forschungsinstitut für Textil und Bekleidung (FTB) an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach leitet.
Eine Antwort auf diese Herausforderung bietet Robotextile. „Uns ist es gelungen, mit extrem wendigen und sehr flexiblen Kuka Kleinrobotern aus der Agilus-, Scara- und LBR iisy-Serie sowie mit speziell hierfür konzipierten Greifern Stofflagen vom Zuschnitt-Stapel abzunehmen und vereinzelt dem nächsten Produktions-Schritt zuzuführen, ohne dabei die untere Stofflage mitaufzunehmen – das gab es bislang so noch nicht am Markt“, berichtet Michael Müller.
Die Robotextile-Macher sind überzeugt, dass europäische Textilproduzenten im internationalen Wettbewerb mit Konkurrenten aus Low-Cost-Ländern im Vorteil sind, wenn sie auf die Robotik setzen: „In der konventionellen Herstellung von Textilien fallen etwa 40 Prozent der Personalkosten auf einfachste Stoffhandhabungstätigkeiten an. Das sind oft sehr eintönige, ermüdende Vorgänge wie das bloße Auflegen von Hosentaschen oder Kragen vor dem Nähvorgang“, stellt Michael Fraede fest. Hier öffne Automation neue Perspektiven für Unternehmen, die mit weniger Personaleinsatz auch Onshore- und Nearshore-Produktion wirtschaftlich gestalten wollen.
Der Teufel steckt im Detail
Mit der neuen Robotextile-Lösung für automatisierte Textilproduktion wissen sich die beiden innovativen Unternehmer auf einem guten Weg. Auch weil sie Lösungen auf die Herausforderungen der Branche gefunden hätten, bei denen „der Teufel im Detail“ stecke, berichtet Michael Müller: „Textilien können sich während der Verarbeitung je nach Konstruktion oder Faserzusammensetzung in ihrer Form verändern, Maschinen müssen sich deswegen bei der Herstellung ständig an den veränderlichen Stoff anpassen.“
In der Erler-Entwicklung in Dormettingen hat Robotextile dazu gemeinsam mit Technologiepartnern eigene Greiftechniken für unterschiedliche Produktionsanforderungen entwickelt. Zum Beispiel einen Strömungsgreifer, der den Coanda-Effekt nutzt. Dabei lässt ein Luftstrom die Stoffecken hochflattern, so dass diese dann vom Greifer einzeln angesaugt und eingeklemmt werden können. Ein anderer spezieller Rollengreifer dient der Aufnahme sehr dünner Textilien. Ein entsprechend ausgelegter Gummi-Parallelgreifer kommt bei Sonder-Textilien zum Einsatz.
Textilverarbeitungsrobotik von Kuka
„Die eingesetzten Kuka Kleinroboter aus der Agilus-, Scara- und LBR iisy-Serie sind dafür wie gemacht“, erklärt Björn Märtens, Global Business Development Manager bei Kuka. „Sie bewegen sich auf kleinstem Raum und erreichen mit ihrer robusten Bauweise maximale Wiederholgenauigkeit und kontinuierliche Präzision bei extremer Geschwindigkeit. Damit sichern sie eine hohe Fertigungsqualität, ohne dabei jemals aus dem Takt zu geraten.“
So könne beispielsweise ein Kuka Scara Roboter in einem Arbeitsraum von 1,60 Meter Durchmesser mit einer Traglast von fünf Kilogramm eine Taktzeit von vier bis sechs Sekunden je Stofflage erreichen. Dabei nutzen sie eine innenliegende Medienversorgung für Luft, Strom und Daten. „Unsere Roboter können mit Hilfe integrierter Sensorik in den Greifern absolut feinfühlig Stofflagen vom Zuschnitt-Stapel nehmen und einzeln dem nächsten Produktionsschritt zuführen“, sagt Björn Märtens.
Kuka Deutschland GmbH
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