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Dritte Generation der Robotik: Serviceroboter im Aufbruch

Fachkräfte in Pflege, Gastronomie, Einzelhandel und in der Logistik entlasten
Dritte Generation der Robotik: Serviceroboter im Aufbruch

Serviceroboter – die als dritte Generation der Robotik nach Industrierobotern und Cobots gelten – sollen Menschen zukünftig in verschiedenen Bereichen unterstützen. Wo liegen die größten Potenziale für den Servicerobotik-Einsatz? Und wo sind noch Hürden? Wir haben uns umgehört.

Autor: Armin Barnitzke

Die Servicerobotik ist ein echter Wachstumsmarkt, wie die Zahlen des Weltroboterverbands IFR zeigen: Rund 121.000 professionelle Serviceroboter wurden 2021 weltweit verkauft, ein stolzes Plus von immerhin 37%. Allerdings befindet sich die Servicerobotik derzeit eher noch in der Marktentwicklung: Denn selbst mit solchen starken Wachstumsraten reicht die Servicerobotik noch nicht an die Zahlen der Industrierobotik heran: 121.000 verkauften Servicerobotern stehen aktuell weltweit rund 500.000 neu installierte Industrieroboter gegenüber. „Und auch beim Marktwert liegen die Industrieroboter noch weit vor den professionellen Servicerobotern“, berichtet Dr. Susanne Bieller, Generalsekretärin der International Federation of Robotics.

Aber: Die Servicerobotik besitzt ein hohes Potenzial, betont Dr. Werner Kraus, Leiter der Abteilung Roboter- und Assistenzsysteme am Fraunhofer IPA. „Das zeigt auch eine Studie der Boston Consulting Group. Diese geht sogar davon aus, dass 2030 die Servicerobotik die Industrierobotik überflügeln könnte, was das Marktvolumen angeht.“ Zumal zu erwarten ist, „dass die Servicerobotik weiter bedeutend schneller wächst als die Industrierobotik“, wie Thomas Hähn, CEO der United Robotics Group ergänzt.

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Dr. Susanne Bieller (IFR)
Bild: IFR

Wo sind Einsatzfelder?

Daher hält es auch Bieller für nicht unwahrscheinlich, dass die professionellen Serviceroboter die Industrieroboter zukünftig sowohl stückzahltechnisch als auch nach dem Marktwert überflügeln werden – gerade mit Blick auf die Beschäftigtenanteile. „In Deutschland stehen 24% der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe einem Anteil von 75% im Dienstleistungssektor gegenüber.“

Und das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland gehe nach Prognosen bis 2035 netto um 4 bis 6 Millionen zurück, betont Patrick Schwarzkopf, Geschäftsführer des VDMA Robotik + Automation. „In nur 12 Jahren wird 1 von 10 Beschäftigten fehlen – ganz besonders im Dienstleistungssektor. Wir sitzen auf einer demografischen Zeitbombe, die wir mit Servicerobotik schleunigst entschärfen müssen. Das ist eine vordringliche wirtschafts- wie gesellschaftspolitische Aufgabe.“

Serviceroboter: Grundlagen der Servicerobotik

Zumal schon heute in vielen Bereichen bereits eine echte Personalknappheit zu spüren sei, ergänzt Bieller: „Daher erobern Serviceroboter aktuell Bereiche, in denen sich nicht mehr in ausreichender Zahl Arbeitskräfte finden lassen, zum Beispiel in der Pflege, im Gastgewerbe, im Einzelhandel und im Bereich Logistik, genauer gesagt im E-Commerce und bei Logistikdienstleistern.“

Aus IFR-Sicht liegen die vielversprechendsten Einsatzfelder für professionelle Serviceroboter generell in den Bereichen, die man auch in der Industrierobotik als „4D“ kennt, also dirty (schmutzig), dull (langweilig), dangerous (gefährlich) und delicate (schwierig). Weitere, zusätzliche Einsatzfelder mit großem Potenzial sieht Bieller unter anderem in der Inspektion und Instandhaltung. „Denn hier kommen in der Regel hochbezahlte Fachkräfte zum Einsatz – und es ist eine hohe, gleichbleibende Qualität gefragt.“

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Patrick Schwarzkopf, Geschäftsführer des VDMA Robotik + Automation.
Bild: VDMA

Wie die Märkte erschließen?

Um diese Märkte zu erschließen und die Mitarbeiter mit Servicerobotern zu entlasten, sei im ersten Schritt eine genaue Analyse der anfallenden Tätigkeiten wichtig, erläutert Bieller. „Und natürlich die Selektion, welche Tätigkeiten sich am einfachsten automatisieren lassen und welche die Beschäftigten idealerweise auch am einfachsten abgeben.“

Ganz trivial ist das aber nicht: Denn die Tätigkeitsfelder im Dienstleistungssektor sind typischerweise sehr breit und Fachkräfte können ganz flexibel vielseitig eingesetzt werden. Roboter dagegen können vor allem eher bestimmte, begrenzte, standardisierte, regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten übernehmen. Bieller: „Während ein Mitarbeiter im Einzelhandel beispielsweise problemlos zwischen Regaleinräumen, Inventur, Kasse und dem Aufwischen eines kaputten Eierkartons hin- und herwechseln kann, bedürfte es vermutlich mindestens drei unterschiedlicher Roboter dafür.“

Dass Serviceroboter-Anwendungen heute zudem „oft wie eine Art Maßanzug“ umgesetzt werden, sieht Kraus durchaus als Herausforderung. „Dieser Ansatz ist zwar im Grunde genommen vorteilhaft, weil die spezialisierten Systeme kostengünstiger sind als aufwendige Allrounder-Lösungen. Die Herausforderung ist jedoch, Anwendungen zu finden, in denen Roboter mit eingeschränkten Funktionen trotzdem einen Mehrwert schaffen können“, so der IPA-Experte.

Immerhin: In einigen Anwendungsfeldern zeige sich der Erfolg dieses Vorgehens, beispielsweise beim Transport, bei der Bodenreinigung oder in der Gastronomie. Dennoch sieht Hähn die Zukunft eher in „Multi-Purpose-Robotern“: Die Nutzung einzelner Roboter für verschiedene Zwecke wird eine Voraussetzung für die Marktdurchdringung der Servicerobotik werden.“

 

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Thomas Hähn (United Robotics Group)
Bild: URG

Wo sind noch Hürden?

Denn: Durch die vielfältige und stark spezialisierte Servicerobotik-Landschaft ist es momentan noch schwierig, echte Skaleneffekte zu erreichen: „Aufgrund der Vielzahl sehr unterschiedlicher Serviceroboteranwendungen sind die Stückzahlen für einzelne Bereiche aktuell immer noch recht niedrig, und die hohen Entwicklungskosten müssen darauf umgelegt werden“, sagt Bieller. Sprich: Ein Serviceroboter ist pro Einsatz-Szenario relativ teuer. „Denn aktuell sind auch die Kosten für Komponenten wie Sensoren immer noch recht hoch. Mit steigendem Einsatz werden aber die Kosten und damit auch die Preise sinken“, ist Bieller überzeugt.

Hähn verweist zudem auf neue Geschäftsmodelle, um die Investitionshürden zu senken: „Natürlich müssen auch Use-Cases und Preise auf den jeweiligen Markt abgestimmt werden. Gerade im Gastro-Sektor sind größere und langfristige Investitionen schwer zu realisieren. Hier können flexible Preismodelle oder Robot as a Service eine Lösung bieten.“ Helfen beim Senken der Kosten könnte auch ein modularer Technologie-Baukasten, ergänzt Hähn: „In einem Feld wie der professionellen Servicerobotik mit vielen Varianten und Anpassungen ist ein solcher modularer Baukasten notwendig, um schnell und effizient auf Kundenwünsche reagieren zu können und passende Produkte zu erschaffen.“

Hilft ein modularer Baukasten?

Immerhin: Gerade beim Thema Software ist hier schon einiges in Bewegung, wie Kraus berichtet: „Es werden immer mehr übertragbare Softwarelösungen für Serviceroboter angeboten. Die Hersteller müssen dann nicht mehr alles komplett selbst neu entwickeln, sondern können sich auf ihre anwendungsspezifischen Softwarekomponenten beschränken.“ Kraus sieht die Servicerobotik hier sogar schon deutlich weiter als die Industrierobotik, die sehr stark an herstellereigenen Lösungen festhält.

Kraus: „Was Software für Serviceroboter angeht, haben wir weltweit bereits ein gutes Niveau der Wiederverwendung erreicht. ROS ist hier als einheitliche Kommunikationsschnittstelle sicherlich führend und erhält mit dem rund 90 Mitglieder starken ROS-Industrial-Konsortium viel Unterstützung auch von industrieller Seite.“ Schon heute gebe es viele ROS-basierte Softwarekomponenten für komplexe, aber grundlegende und damit oft benötigte Funktionen, die frei verfügbar genutzt werden können. Kraus: „Übrigens, was viele nicht wissen: Auch die kommerzielle Verwendung ist mit ROS möglich.“

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Werner Kraus (Fraunhofer IPA)
Bild: Fraunhofer IPA

 

Einfache Bedienung ist zentral

Ein weiteres wichtiges Thema neben den Kosten ist für Hähn die einfache Bedienung: „Anbieter von Servicerobotern können neue Märkte erschließen, indem sie ihre Produkte auf die Anforderungen und Bedürfnisse ihrer Kunden ausrichten. Die User-Experience steht dabei im Vordergrund.“ Service-Roboter sollten aus Hähns Sicht intuitiv zu bedienen sein, damit die Nutzer und Nutzerinnen die Roboter als Werkzeuge ansehen, die ihre Arbeit erleichtern.

„Nur ein konsequent humanzentrierter Ansatz wird der Servicerobotik zu wirklicher Akzeptanz bei Anwendern, Beschäftigten sowie in der Gesellschaft und damit zum Durchbruch verhelfen“, bestätigt VDMA-Mann Schwarzkopf. „Der Serviceroboter soll schwere Teller tragen und das schmutzige Geschirr in die Küche bringen. Die Weinempfehlung und eine charmante Bemerkung ist und bleibt die Domäne der menschlichen Servicekraft.“ Mit der Good Work Charter habe die Robotikindustrie hierfür eine klare Leitlinie definiert.

Wie profitiert die Industrierobotik?

Da die Serviceroboter – im Gegensatz zu Industrierobotern, die meist in einem Umfeld mit geschultem Personal agieren – in der Regel mit Laien interagieren, müssen sie aber nicht nur sehr intuitiv sein, sondern auch höhere Sicherheitsanforderungen erfüllen, ergänzt Bieller.

Von diesen erhöhten Anforderungen an die Serviceroboter können dann auch wiederum die Industrieroboter profitieren, so Hähn: „Da Serviceroboter in Umgebungen verwendet werden, die sich permanent verändern und innerhalb der sich Menschen wenig vorhersehbar bewegen, müssen sie mit besseren Sensoren und Algorithmen ausgerüstet sein, ihre Umwelt besser erkennen und schnell sowie sicher reagieren zu können. Die Industrierobotik kann dies wieder adaptieren, um flexibler und weniger störanfällig zu werden.“ Und auch Themen wie künstliche Intelligenz, intuitive low-code/no-code-Programmierung, Cloud Systeme und As-a-Service-Geschäftsmodelle, die den Servicerobotik-Markt technologisch voranbringen, können und werden laut Hähn auch in der Industrierobotik eine Rolle spielen.

Andersherum können die Serviceroboter von den Industriekollegen noch einiges lernen, etwa in Sachen Verfügbarkeit, Robustheit und Genauigkeit, so der URG-Gründer. „Hier ist die Industrierobotik mit ihrer umfassenden Erfahrung der Servicerobotik noch weit voraus.“ Auch Simulation und Offline-Vorabplanungen – heute Standard in der Industrierobotik – gebe es bisher kaum in der Servicerobotik. „Es werden meist zeit- und kostenaufwendige Feldtests und Proof of Concepts durchgeführt.“

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Serviceroboter sollen Fachkräfte entlasten – beispielsweise in der Pflege.
Bild: Fraunhofer IPA

Wer dominiert die Servicerobotik?

Abzuwarten bleibt, welche Hersteller langfristig die Servicerobotik dominieren werden. Denn zwar kommen in Servicerobotern oft Roboterarme (Manipulatoren) oder Werkzeuge (Greifer) von den bekannten Industrierobotik-Größen zum Einsatz. Aktuell machen dann aber oft Drittanbieter aus ganz anderen Branchen diese Industrierobotik-Komponenten fit für den Servicerobotik-Einsatz, berichtet Bieller. „Zum Beispiel traditionelle Landtechnikunternehmen oder Hersteller von Reinigungsmaschinen.“

Daneben gebe es sehr viele kleine, spezialisierte Serviceroboterhersteller, oft (noch) Start-ups, ergänzt Bieller. „Hier rechnen wir in den kommenden Jahren mit einer Konsolidierung. Welche Player am Ende den Markt dominieren, können wir heute noch nicht sagen.“ Immerhin: Deutschland sei in dem Wachstumsmarkt Servicerobotik international gut positioniert, betont die IFR-Generalsekretärin. „Mit 91 Herstellern von Servicerobotern liegt Deutschland auf Platz drei hinter den USA und China.“

Um weiter eine wichtige Rolle zu spielen, sei eine starke Vernetzung aller Stakeholder rund um die Servicerobotik entscheidend – „von der Politik über die Forschung und Hersteller bis zum Endanwender oder sogar einer breiteren Öffentlichkeit“, so Kraus. Im Ausland sei diese Entwicklungen schon länger zu beobachten, „man denke ans Silicon Valley oder an Odense Robotics. In Deutschland gibt es diese Zentren beispielsweise rund um Dresden, München und auch ins der Region Stuttgart-Tübingen, wo wir als Fraunhofer IPA mit dem KI-Fortschrittszentrum als Teil des großen KI-Forschungsverbund Cyber Valley agieren. So entstehen Sichtbarkeit und Synergien, um Robotik allgemein und die Servicerobotik im Besonderen voranzubringen.“


Sind Cobots auch Serviceroboter?

Nein, nicht unbedingt. Ein kollaborativer Roboter (Cobot), der zum Beispiel Teile in eine Maschine einlegt oder Montageaufgaben übernimmt, gehört laut IFR-Definition zu den Industrierobotern, da er an konkreten Fertigungsprozessen mitarbeitet. Folgerichtig zählt die IFR die Cobots in der Industrieroboter-Statistik.

Dagegen ist ein Cobot, der in einer Bar Getränke ausgibt, ein Serviceroboter. Aber natürlich verschwimmen die Grenzen. So zählt ein mobiler Transportroboter, der etwa Lager und Produktion verbindet, als Serviceroboter, weil er Hol- und Bringdienste verrichtet. Ist aber auf dem Transportroboter ein Cobot installiert, der während der Fahrt Montage, Prüfungs- und Beschriftungsaufgaben vornimmt, wird das System – zumindest teilweise – zum Industrieroboter.


Was ist ein Serviceroboter?

Laut IFR ist ein Serviceroboter ein Roboter, der „nützliche Aufgaben für Menschen oder Anlagen ausführt, ausgenommen industrielle Automatisierungsanwendungen“. Kurz gesagt: Serviceroboter sind alle Roboter, die nicht direkt an industriellen Fertigungsprozessen beteiligt sind, sondern (einfache) Dienstleistungen für den Menschen erbringen: Böden putzen, Gäste bedienen, das Feld beackern, oder Transportaufgaben im Krankenhaus übernehmen.



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