China war das erste Land, das 2020 in den Corona Lockdown ging: Wie hat sich die chinesische Wirtschaft seitdem entwickelt?
Stieler: Nach den Zahlen des Internationalen Währungsfonds war China die einzige große Volkswirtschaft auf der Welt, die 2020 gewachsen ist. Nämlich um 2,3 Prozent. Man sollte allerdings nicht verschweigen, dass dieses Wachstum stark vom Export getrieben war. Für die Robotik- und Automationsbranche in China war 2020 ein überraschend gutes Jahr. Trotz des strengen Lockdowns im ersten Quartal übertraf der Roboterabsatz auf das Gesamtjahr verteilt den Absatz des Vorjahres nach unseren Berechnungen um 2,4 Prozent.
Und wie sind die weiteren Prognosen?
Stieler: Für das laufende Jahr erwartet die chinesische Regierung ein BIP-Wachstum von etwa 6 Prozent. In unserer Studie „Chinas Zukunftsindustrien“ haben wir uns mit den sieben dynamischsten Absatzbranchen für Produktionstechnologie befasst: 3C (also Computer-, Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik), Halbleiter, Automobilelektronik, Batterien, Medizintechnik, Photovoltaik und der zivilen Luftfahrtindustrie. Bis auf die Luftfahrtindustrie haben sich sämtliche dieser Branchen in China auch im Pandemiejahr 2020 positiv entwickelt. Aufgrund politischer Unterstützung und technologischen Fortschritts weisen alle von ihnen positive Wachstumsaussichten auf. Nach Umsatz betrachtet erwarten wir bei vier der sieben Sektoren bis 2025 sogar jährliche Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich.
China ist also weiter ein lukrativer Markt für die Hersteller von Produktionstechnik wie Maschinen, Robotik und Automation?
Stieler: Natürlich, und zwar auf verschiedenerlei Ebenen. Die Stückzahlen, die wir etwa im Bereich Roboter sehen, sind verrückt. Der Marktführer Fanuc erwartet etwa, dieses Jahr 36.000 Roboter in China abzusetzen. Allerdings sind die Margen deutlich niedriger, die Preise liegen teilweise bis zu 50 Prozent unter denen, die in Japan oder in Europa abgerufen werden können.
Und wird dieses Wachstum so weitergehen? Oder gibt auch Risiken?
Stieler: Nun ja. Der Internationale Währungsfonds hat ja bereits vor den anhaltend steigenden Schulden des Landes gewarnt. Zudem weist selbst Chinas Premierminister Li Keqiang auf globale Risiken hin, die die Erreichung dieses Ziels gefährden könnten. Und nicht zu vergessen: Aufgrund der Folgen der Ein-Kind-Politik wird China in den nächsten zwanzig Jahren so stark altern wie die Gesellschaften der westlichen Industrienationen im gesamten vergangenen Jahrhundert. Die Konsequenzen für das Wirtschaftswachstum und das Innovationspotential des Landes werden erheblich sein. Dazu kommen geopolitische Unsicherheiten und das chinesische Streben nach technologischer Unabhängigkeit…
Gefahr: Das Streben nach technologischer Unabhängigkeit
Ist Chinas Streben nach technologischer Unabhängigkeit eine Gefahr für die Hersteller von Maschinen, Robotik und Automation?
Stieler: Auch wenn offizielle chinesische Stellen nicht mehr über Made in China 2025 sprechen, bleiben die Ziele und Methoden doch intakt. Für Industrieroboter stand da bis zum Jahr 2020 ein angepeilter Marktanteil einheimischer Hersteller von 50 Prozent, für 2025 einer von über 70 Prozent. Die im vergangenen Jahr zum ersten Mal erwähnte Dual Circulation-Strategie wird dies weiterführen: China soll insbesondere bei High-Tech-Gütern so autark wie möglich werden. Gleichzeitig soll der Weltmarkt für chinesische Exporte geöffnet bleiben. Im Idealfall wird die Welt abhängig von chinesischen Standards und Technologien.
Was bedeutet das für Produktionstechnikhersteller?
Stieler: Ausländische Unternehmen stehen in dieser Situation vor einem Dilemma: Auf der einen Seite ist China derzeit der größte Wachstumsmarkt, der auch immer stärker Impulse hinsichtlich neuer Innovationen und Standards setzt. Wenn man hier Lösungen anbieten kann, die chinesische Unternehmen noch nicht beherrschen, ist das ein attraktiver Markt. Allen Beteuerungen zur Gleichbehandlung von in- und ausländischen Unternehmen zum Trotz klagen unsere Kunden allerdings immer häufiger über technisch aufschließende chinesische Wettbewerber, Anzeichen politischer Bevorzugung und nicht nachvollziehbare Dumpingpreise. Auch wird sich die Kundenbasis weiter zu einheimischen Unternehmen hin verschieben. Diese aufstrebenden chinesischen Champions haben wir in unserer Studie identifiziert und beschrieben.
Droht deutschen Herstellern in dem Zusammenhang eher ein Know-how-Abzug oder eher ein Aufkauf?
Stieler: Das ist wohl gemischt. Die Zeitspanne, in der Tesla von der gefeierten Neuansiedlung zum Problemfall wegen angeblicher Spionagegefahr geworden ist, war extrem kurz. In der Zwischenzeit hat Tesla Partner und Lieferanten ausgebildet, was der chinesischen Elektroautoindustrie einen zusätzlichen Schub gegeben hat. Allerdings sehen wir auch, dass chinesische Investoren nach wie vor auf der Suche nach Übernahmezielen im Automationsbereich in Europa sind. Dass Brüssel und Berlin bei der Pandemiebekämpfung so dermaßen versagen, stärkt die Position europäischer Unternehmen nicht unbedingt. Klar ist auch: Chinesische Roboterhersteller schauen nach Europa. Auch weil die Margen hier größer als in ihrem Heimatmarkt sind.
Wie die Handelskonflikte behindern
Wie und wo trifft der Handelskonflikt USA China auch die Technologielieferanten?
Stieler: Alle High-Tech-Industrien mit globalen Lieferketten reagieren auf die derzeitigen Entkopplungstendenzen empfindlich. Manche ausländischen Technologielieferanten sind direkt betroffen in Form von Lieferverboten. Bei anderen schlägt die durch Sanktionen hervorgerufene wirtschaftliche Unsicherheit chinesischer Kunden auf das Investitionsverhalten durch.
Am deutlichsten wurde das bisher in den Bereichen 3C und Halbleiter: Die Exportbeschränkungen der US-Regierung für die Lieferung von Software und Halbleitertechnologie an zahlreiche chinesische Unternehmen zwangen etwa Huawei, einen Teil seines Smartphone-Geschäfts zu verkaufen. Die Tatsache, dass der Konzern das bereits erwartet hatte und in den vergangenen zwei Jahren massiv Speicherchips auf Vorrat kaufte, trug teilweise zu der Knappheit, von der Autohersteller derzeit weltweit betroffen sind, bei.
Mitte März wurde bekannt, dass Apple seine Beziehung zu O-Film, einem Hersteller von Kamerateilen und Touchmodulen, wegen Zwangsarbeit in dessen Lieferkette beendet hat, was diesen mindestens ein Viertel seines Umsatzes kosten wird. Amerikanische Exportverbote für Equipment zur Chipherstellung erstrecken sich auch auf Produkte nichtamerikanischer Unternehmen wie etwa den Marktführer für Lithographiesysteme ASML.
Die Automobilelektronik war bisher nicht von Sanktionen betroffen. Durch den steigenden Anteil von Informationstechnologie in Fahrzeugen steigt allerdings auch hier das Risiko. Führende Autozulieferer sprechen schon vom Szenario einer „Dual Architecture“ für China und den Rest der Welt. Einen Vorgeschmack liefern hier Entwicklungen zum autonomen Fahren, wo Peking ausländische Unternehmen seit jeher zwingt, mit einheimischen Anbietern von Clouddiensten und hochauflösenden Karten zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig ist es ungewiss, ob diese Lösungen in anderen Regionen eine Zulassung erfahren würden.
In der Photovoltaik beherrscht China große Teil der Wertschöpfung. Die Anfang 2021 aufgetauchten Berichte über Zwangsarbeit in den Lieferketten aller führenden Hersteller von Solarmodulen droht allerdings deren Exportfähigkeit in die USA und nach Europa zu gefährden.
- Wenn auch mit weniger Außenwirkung als im Halbleiterbereich haben die amerikanischen Behörden in den vergangenen zwei Jahren auch einzelne Unternehmen in der Medizintechnik und im Luftfahrtbereich mit einem Lieferbann belegt.
Ist nur der USA-China-Konflikt ein Problem?
Nein. Man macht es sich zu leicht, wenn man das Thema nur auf den Konflikt zwischen China und den USA reduziert. Es gibt ja auch bei uns kritische Technologien, die nicht aus Europa nach China geliefert werden dürfen. Und wie das Beispiel Australien zeigt, können die wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen in Anbetracht der zahlreichen geopolitischen Konfliktpunkte auch schnell zu Kollateralschäden werden.
Und welche Auswirkungen haben Produktionsverlagerungen?
Stieler: Gerade im Bereich 3C ist ein umfangreicher Verlagerungsprozess von China nach Indien und Südostasien im Gange. Taiwanesische Lohnfertiger verkaufen manche ihrer Fabriken an Wettbewerber vom chinesischen Festland, die dadurch in der Wertschöpfungskette weiter nach vorne rücken. Manche Industriebeobachter sprechen von zwei Lieferketten in der Zukunft: Einer „Red Supply Chain“ für China und einer anderen für den Rest der Welt. Lieferanten müssen hier vor Ort präsent sein, um kurzfristige Serviceleistungen anbieten zu können. Für viele Unternehmen war China nie die erste Wahl, um Südostasien zu bedienen. Singapur mit seiner guten Infrastruktur, effizienten Verwaltung und einem Rechtssystem, das geistiges Eigentum zuverlässig schützt, eignet sich gut als Hub.
Welche Technologien und Branchen sich lohnen
Welche Technologien haben mittelfristig die besten Chancen? Robotik? Maschinen? Oder Spezial Knowhow, etwa für Halbleiter?
Stieler: Das muss man im Einzelfall betrachten. Hat mein Unternehmen einzigartige Lösungen, die in den jeweiligen Branchen benötigt werden? Ist der Markt bereit für mein Produkt? Je weniger Wettbewerb, desto höher die Margen. Da Sie den Halbleiterbereich ansprechen: Hier ist in den letzten Jahren am meisten Geld geflossen, und das wird wohl auch so weitergehen. Einige milliardenschwere Großprojekte wie etwa Wuhan Hongxin sind allerdings auch spektakulär gescheitert.
In welchen Anwendungs-Branchen haben deutsche Lieferanten die besten Chancen? Eher in starken China-Branchen wie der Solar-Industrie oder in Bereichen, in den China noch nicht so stark ist, etwa in der Medizintechnik?
Stieler: Auch hier kommt es auf die individuellen Stärken des jeweiligen Unternehmens an. 3C ist mit Abstand der größte Absatzmarkt. Hat man hier passenden Angebote und eine entsprechende Vertriebsorganisation vor Ort, um diese zu nutzen? Kann man den teilweise extremen Preiswettbewerb mitgehen? Im Solarbereich beispielsweise sehen wir außer einheimischen und japanischen Roboterherstellern nur Stäubli. Wie gesagt, existiert hier neben massiven Plänen zur Kapazitätsexpansion ein Absatzrisiko wegen potentieller Importstopps von Solarmodulen nach Europa und in die USA. Der Einsatz von Robotik und Automation in der Produktion von Medizintechnik ist bisher eine Nische. Diese kann attraktiv sein, weil dieser Bereich eine hohe Wertschöpfung aufweist, was mit einer höheren Zahlungsbereitschaft für hochwertige Lösungen einhergeht.
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