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„Beim Retrofit wird der Maschinenbetreiber zum Hersteller“

Neue EU-Maschinenverordnung: Was Anwender beachten müssen
„Beim Retrofit wird der Maschinenbetreiber zum Hersteller“

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Warum die neue EU-Maschinenverordnung (MVO) – gerade beim Umbau oder Retrofit – auch für Maschinenbetreiber gilt, was die MVO für die Robotik bedeutet und wie der über Conrad buchbare Safety Dialog im Normen-Dickicht hilft, erläutert Jens Müller, Sachverständiger für Maschinensicherheit.

Interview: Armin Barnitzke

Am 20. Januar 2027 löst die neue EU-Maschinenverordnung die bestehende Maschinenrichtlinie ab. Wen betrifft diese MVO?

Müller: Nun, die neue MVO gilt generell für jeden, der eine Maschine, eine unvollständige Maschine oder eine Funktionsbaugruppe für eine Maschine herstellt. Modernisiert ein Betreiber seine Maschine im Rahmen von Wartungs- und Instandhaltungs- oder Retrofit-Maßnahmen, wird auch dieser in der Regel zum Hersteller und ist von den neuen Regelungen betroffen. Das ist vielen Maschinenbetreibern nicht bewusst. Und um ehrlich zu sein: Das prüft auch zunächst keiner. Bis zu dem Moment, wo etwas schief geht. Das böse Erwachen findet erst dann statt, wenn die Berufsgenossenschaft vor der Tür steht.

Kontrolliert wird das also nicht automatisch von einer Behörde?

Müller: Nein. Im Grunde ist es wie bei einer roten Ampel. Wenn man bei Rot geht und kein Verkehr kommt, passiert nichts. Und genau das ist das Ding: Bei Betreibern ist mit Blick auf die Gesamtbewertung der Maschinensicherheit kein klassischer Prüfzyklus etabliert. Es sollte jedoch das Eigeninteresse jedes Betreibers sein, seine Maschine auf dem Stand der Technik zu halten. Viele kommen erst ins Handeln, wenn etwas passiert, Gefahr im Verzug ist, die Maschine stillgelegt ist oder eine Verfügung auf dem Tisch liegt. Dann ist es aber meistens schon zu spät.

Welche Auswirkungen hat die neue MVO speziell auf die Robotik?

Müller: Die neue MVO legt einen größeren Fokus auf die Sicherheit intelligenter und vernetzter Maschinen, zu denen auch Roboter zählen. Hersteller müssen sicherstellen, dass ihre Roboter nicht nur mechanisch, sondern auch im Hinblick auf Software und Cybersicherheit die neuen Anforderungen erfüllen. Das bedeutet, dass Roboterhersteller dafür verantwortlich sind, Updates sicher zu gestalten und mögliche Sicherheitslücken schnell zu schließen. Zudem berücksichtigt die MVO explizit den Einsatz von KI in Maschinen. Das bedeutet, dass Roboter, die auf KI-Algorithmen basieren, strenger geprüft werden müssen, um sicherzustellen, dass sie keine unvorhersehbaren Risiken darstellen. Besonders lernende Roboter, die ihr Verhalten anpassen können, müssen sicherstellen, dass diese Lernprozesse keine Gefährdung für Personen darstellen. Übrigens: Ergänzend ist auch die Robotiknorm ISO 10218–1/-2 in Überarbeitung und wird voraussichtlich mit dem Inkrafttreten der MVO im Januar 2027 harmonisiert sein. Für Hersteller sind dann zwei neue Anforderungen (MVO/ ISO 10218) parallel umzusetzen.

Betrifft die MVO denn nur die Roboterhersteller? Auch die Do-it-Yourself-Robotik liegt ja gerade im Trend. Wenn man sich als KMU einen Roboter samt Zubehör kauft und dann selbst in Betrieb nimmt, wird man dann zum Maschinenhersteller und muss die MVO beachten?

Müller: Ja, klar. Eine Roboterapplikation ist eine Maschine und unterliegt der CE-Kennzeichnungspflicht und die MVO ist ein wesentlicher Bestandteil des CE-Kennzeichnungsprozesses. Somit wird der Robotikbetreiber bei der Umsetzung der DIY-Robotik im ersten Step zum Hersteller.

Wie können neue Technologien wie Simulation und digitale Zwillinge bei der Erfüllung der Anforderungen helfen?

Müller: Simulationen und digitale Zwillinge sind äußerst effektive Werkzeuge, die dabei unterstützen, die Anforderungen der MVO und der ISO 10218 zu erfüllen. Mittlerweile gibt es bereits eine Vielzahl von Simulationstools, die speziell für MRK-Anwendungen entwickelt wurden. Besonders hervorzuheben sind Lösungen für dynamische Schutzfelder und die Analyse von auftretenden Kollisionskräften. Diese Tools ermöglichen eine präzise Simulation der Interaktion zwischen Mensch und Roboter, wodurch Sicherheitsaspekte wie Kraftbegrenzungen und Schutzfeldanpassungen realitätsnah geprüft werden können.

Wenn ich eine bestehende Roboteranwendung mit einem neuen Greifer ausstatte oder den Roboter an eine andere Maschine schiebe, muss ich dann auch die MVO beachten?

Müller: In dem Zuge ist zu überprüfen, ob eine „wesentliche Veränderung“ stattgefunden hat, d.h. wurde ein bestehendes Risiko erhöht oder sind neue Gefährdungen durch den Umbau entstanden? Wenn JA wird dadurch ein neues Konformitätsverfahren, also ein neuer CE-Prozess angestoßen. Als Betreiber muss ich dann prüfen, ob ich die Herstelleranforderungen als KMU in Eigenregie umsetzen kann.

Was genau ist eine solche „wesentliche Veränderung“? Was sagt die neue Maschinenverordnung dazu?

Müller: Die neue Maschinenverordnung schafft mehr Klarheit, wann eine wesentliche Änderung an bestehenden Maschinen vorliegt und somit eine neue CE-Konformitätsbewertung durchgeführt werden muss. Entscheidend ist der Artikel 18 der MVO. Danach ist eine wesentliche Änderung eine „vom Hersteller nicht vorgesehene oder geplante physische oder digitale Veränderung einer Maschine oder eines dazugehörigen Produkts nach deren beziehungsweise dessen Inverkehrbringen oder Inbetriebnahme, die die Sicherheit der jeweiligen Maschine oder des dazugehörigen Produkts beeinträchtigt, indem eine neue Gefährdung entsteht oder sich ein bestehendes Risiko erhöht“. Die Frage ist also: Liegt durch den Umbau eine neue Gefährdung vor? Erhöht sich durch diese neue Gefährdung das vorhandene Risiko? Sind die vorhandenen Schutzmaßnahmen ausreichend?

Klingt kompliziert. Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?

Müller: Stellen Sie sich vor, Sie haben im Rahmen eines Retrofits in die Maschine eingegriffen und beispielsweise eine berührungslose Schutzeinrichtung per Laserscanner oder Lichtgitter integriert. Dieses neue Sicherheitsprodukt muss ein Mal pro Jahr vom Betreiber gecheckt werden. Was viele nicht wissen: Selbst wenn ich durch die Integration neuer Komponenten die Maschine noch sicherer gemacht habe, habe ich eventuell so tief in die Sicherheitstechnik eingewirkt, dass die Maschinensicherheit generell neu bewertet werden muss. Es hilft also nichts, wenn die berührungslose Schutzeinrichtung funktioniert. Ich muss mich auch um den formellen Ablauf kümmern. Doch das wissen die meisten Betreiber nicht.

Welche Vorgehensweise raten Sie Maschinenbetreibern, wenn es darum geht, sich mit der neuen MVO auseinanderzusetzen?

Müller: Die Verordnungstexte sind auf EUR-Lex frei verfügbar. Allerdings lesen sie sich in der Tat wie 100 Seiten reiner Gesetzestext. Da muss man schon ein Faible haben, wenn man sich da reinfuchsen will. Ich würde deshalb sagen: Der beste Startpunkt ist, wenn ich eine konkrete Idee für die Umsetzung eines Retrofits habe. Am konkreten Projekt kann man das am einfachsten erklären.

Wie sollte ein Betreiber dann vorgehen?

Müller: Am besten stellt er sich die Frage: Habe ich einen Technikprofi in meinen Reihen, der sich um die leidigen Themen formeller Ablauf, Risikobeurteilung, Betriebsanleitung usw. kümmern will? Machen Sie sich bewusst, dass auch eine Risikobeurteilung auf Normen und Richtlinien basiert, die sich wie ein Gesetzestext lesen. Für einen Maschinenbauexperten ist das kein Problem. Doch als Laie fällt es wirklich schwer herauszufiltern, was wirklich wichtig und zu tun ist.

Und wenn ein KMU den Retrofit nicht alleine umsetzen kann?

Müller: Die Praxis zeigt, dass es nicht unüblich ist, dass Unternehmen weder die Ressourcen noch das nötige Know-how in ihren Reihen haben. Deshalb macht es aus meiner Erfahrung Sinn, sich für ein konkretes Projekt externe Unterstützung zu holen. Ganz im Sinne von Learning by Doing. Wir arbeiten im Rahmen des Safety Dialogs, der beispielsweise über die Conrad Sourcing Platform gebucht werden kann, wirklich ergebnisoffen. Dabei kann sich auch herausstellen, dass der Betreiber das Projekt doch autark erarbeiten kann.

Können Sie kurz erläutern, wie so ein Safety Dialog abläuft?

Müller: In einem vierstündigen Gespräch – entweder vor Ort oder online – klären wir zunächst, was der Betreiber vielleicht selbst umsetzen kann und wo er Unterstützung benötigt. Als zertifizierte Sachverständige für Maschinensicherheit und Arbeitssicherheit unterstützen wir ganzheitlich angefangen von Herstellerpflichten (etwa CE-Kennzeichnung) bis zu Betreiberpflichten wie Arbeitssicherheit. Wir zeigen dabei die Mindestanforderungen auf, um ein „Overengineering“ zu vermeiden.

Raten Sie zu einem ersten Online-Gespräch oder macht ein Vor-Ort-Termin mehr Sinn?

Müller: Gerade mit Blick auf Retrofit, Neuinstallation oder Umbau lässt sich vieles erst vor Ort klären. Für eine zehn Jahre alte Maschine gibt es zwar einen Elektroplan, da ist aber darüber hinaus vielleicht schon zwei oder drei Mal etwas umgebaut, aber nicht dokumentiert worden. In einem ersten Schritt geht es darum, herauszufinden, welche Normen relevant sind. Hier kann ein Profi echt hilfreich sein.

Und wie unterstützen Sie mit dem Safety Dialog auch bei der Erfüllung der Robotik-Anforderungen?

Müller: In unserem Safety-Dialog beleuchten wir unter anderem Fragestellungen rund um DIY-Robotik, die Klärung der Rollen als Betreiber oder Hersteller, sowie die Herausforderungen beim Retrofit und wesentlichen Veränderungen bestehender Applikationen. Unser oberstes Ziel ist es, dem Kunden bereits in der Planungsphase eines Projekts einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Anforderungen erfüllt werden müssen. Auf diese Weise möchten wir die Entscheidungsgrundlagen schaffen, ob das Projekt im DIY-Stil umgesetzt werden kann oder ob es sinnvoller ist, einen Integrator hinzuzuziehen.

Wie wird dieser Ansatz von KMUs angenommen?

Müller: Unsere Kunden schätzen unsere Hands-on-Mentalität und langjährige Erfahrung aus der Praxis heraus. Einer meiner ersten Sätze ist meistens: „Schicken Sie uns bitte Ihre Projektdaten durch. Ich muss verstehen, wo wir anfangen.“ Wir möchten unsere Kunden befähigen und gemeinsam mit ihnen die Projekte besprechen und sie selbst einschätzen lassen: Kann ich das selbst machen oder brauche ich externe Unterstützung? Unsere oberste Zielsetzung ist Wissenstransfer, sodass Kunden im ersten Projekt vielleicht noch bis zu 100% Unterstützung brauchen, in einem nächsten Projekt dann aber die begleitende Online-Betreuung oder ein kurzer Call ausreicht.

Und der Safety Dialog liefert dafür erste Impulse?

Müller: Das ist unser Ansatz. Häufig sind unsere Kunden überrascht, wie viele Dokumente und Infos online zu finden sind. Checklisten etc. sind oft sogar frei verfügbar und enthalten relevante Links, so dass zielgerichtet weitergearbeitet werden kann. Oft zeigt sich, dass man viel selbst machen kann. Auch die erfolgreiche Umsetzung einer CE-Kennzeichnung erfordert Praxis-Know-how sowie Fachwissen in der Maschinensicherheit. Wir begleiten unsere Kunden bei ihrem Projekt und geben ihnen die Gewissheit, dass zu 100% alle gesetzlichen Anforderungen für Hersteller sowie Betreiber erfüllt werden.

Abschließend: Was sind eigentlich die Konsequenzen, wenn gegen die MVO verstoßen wird?

Müller: Die neue MVO ist ein Gesetz. Man unterscheidet also zwischen grobe Fahrlässigkeit, Fahrlässigkeit und Vorsatz. Vorsatz ist dann gegeben, wenn ich Kenntnis von etwas habe, das eine Gefahr für Leib und Leben birgt, ich es aber trotzdem laufen lassen. In diesem Fall fragt die zuständige Behörde: Warum ist der Arbeitsunfall passiert? Ist die Maschine manipuliert worden, hat der Betreiber einen Umbau getätigt oder ist die Maschine bereits im Auslieferungszustand nicht sicher gewesen und der Hersteller hat ein nicht-konformes Produkt in den Verkehr gebracht? Vorsatz wollen wir als Sachverständige nie erleben. Und deshalb ist unser Ansatz klar und wir raten jedem KMU dazu, im Safety-Segment lieber mehr zu tun als zu wenig.

Conrad Electronic SE

http://conrad.de/wartung-40


Experten für Maschinensicherheit

Jens Müller ist Gründer und Geschäftsführer von „Müller & Partner Sachverständige“ und verfügt über 25 Jahre Praxiserfahrung in Maschinenbau und Automatisierung. Gemeinsam mit seinem Partner Igor Osnizki bietet Jens Müller Maschinenbetreibern die Dienstleistung „Safety Dialog” an, die auf der Conrad Sourcing Platform gebucht werden kann und die Unternehmen praxisnah bei der Optimierung ihrer Maschinensicherheit unterstützt.

Einer der Schwerpunkte von Jens Müller sind Roboterapplikationen (ISO 10218–2) und integrierte Fertigungssysteme (ISO 11161). Außerdem ist er nach ISO/IEC 17024 zertifizierter Sachverständiger für Maschinensicherheit / CE sowie für Roboter und Handhabungssysteme, Fachkraft für Arbeitssicherheit (BG ETEM), geprüfter Sachverständiger für Arbeitssicherheit (BDSF) und als Certified Machinery Safety Expert (TÜV Nord), kurz CMSE, im Einsatz.


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