Zunächst mal zum Verständnis: Was verstehen Sie bei Scio unter einem Digital Twin?
Reiser: Durch eine bisher fehlende standardisierte Definition werden manchmal bereits einfache CAD-Modelle als Digital Twin bezeichnet. Unser Verständnis geht darüber hinaus. Im Gegensatz zur Simulation und VIBN betrachten wir die Anwendungsfälle des digitalen Zwilling für alle Phasen eines Anlagenlebenszyklus. Ausgehend von der Planungs- und Konstruktionsphase über die Inbetriebnahme funktioniert unser Digital-Twin-Konzept für Remote Services, Schulungen, das Durchspielen von Änderungsszenarien oder die Anlagenoptimierung. Die Anlage ist zu diesem Zeitpunkt bereits in Betrieb, sodass Daten zwischen der physischen Anlage und dem digitalen Modell hin und her übertragen werden.
Haben Sie konkrete Projektbeispiele?
Reiser: Basierend auf unserer virtuellen Inbetriebnahme haben wir bereits digitale Ebenbilder von Anlagen und Prozessen entwickelt. Während eines Kundenprojekts haben wir eine Zelle zur zerstörungsfreien Prüfung von Bauteilen nicht nur konstruiert und gefertigt, sondern auch virtualisiert. Dieses virtuelle Modell kann nun zur interaktiven Demonstration bei deren Kunden sowie für Schulungen oder die risikolose Erprobung von neuen Schrittketten für die Messungen neuer Bauteile genutzt werden.
Wie macht ein Digital Twin Produktions- und Betriebsprozesse effizienter?
Reiser: Die wichtigste Grundlage für die Optimierung von Produktions- und Betriebsprozessen sind in der Regel reale Betriebsdaten. Das digitale Modell und die damit einhergehende Visualisierung der oftmals sehr komplexen Anlagen und Abläufe hilft den Betreibern jedoch, ihre Anlagen samt den dazugehörigen Abläufen besser zu verstehen. Das digitale Modell ermöglicht im Betrieb z.B. die Anlagenüberwachung oder die Unterstützung von Reparaturen aus der Ferne oder die Visualisierung von Störungsverläufen. In Kombination mit der Aufzeichnung von Betriebsdaten können die Betreiber ihre Anlage kontinuierlich optimieren, Anlagenstillstände reduzieren und die Gesamtanlageneffektivität (OEE) gezielter verbessern.
Und wie sieht das konkret aus?
Reiser: Vor einiger Zeit haben wir für eine Anlage mit vielen Bearbeitungsstationen einen reinen Daten-Zwilling erstellt, wodurch NiO-Teile früh erkannt wurden. Auf Grundlage von aufgezeichneten Anlagendaten haben wir eine Prognosematrix erstellt, die die Wahrscheinlichkeit einer NiO-Prüfung für jedes Bauteil in den verschiedenen Stationen vorhersagt. Dank dieser zuverlässigen Prognose konnten wir bereits sehr früh im Fertigungsprozess feststellen, ob ein Bauteil NiO getestet wird. Das Beispiel zeigt uns, dass der Digital Twin mit KI-basierten Analysen ein großes Potenzial zur Verbesserung der Anlagen-OEE bietet.
Welche Herausforderungen sind bei der Digital Twin-Entwicklung noch zu bewältigen?
Reiser: Neben dem Aufwand für die Entwicklung des virtuellen Modells, sehe ich insbesondere die fehlende Daten-Architektur als eine große Herausforderung für viele Unternehmen. Für die Entwicklung und Effizienz des Digital Twin müssen wir Daten aus vorherigen Arbeitsschritten, z.B. CAD/ECAD-Software, übernehmen. Hier fehlen passende Schnittstellen und Datenformate sind oftmals inkompatibel. Daher arbeiten wir bei Scio an einem standardisierten Datenmodell, einer strukturierten Datenablage, eine Single Source of Truth, und der Entwicklung von neuen Schnittstellen für eine größtmögliche Durchgängigkeit. Insbesondere unser Single Source of Truth-Konzept ist für uns intern entscheidend, um den digitalen Zwilling möglichst effizient aufzubauen und damit er sein volles Potenzial entfalten kann. Hier haben wir mit unserer hauseigenen 360° Projekt-Engineering & Management Software SO3 eine Datenquelle, deren Integration wir ausbauen.
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