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Industrie 4.0: Digitalisierungszug kommt nur langsam in Fahrt

Wo steht die vierte industrielle Revolution?
Industrie 4.0: Der Digitalisierungszug in der Industrie kommt nur langsam in Fahrt

Unter dem Motto „Industrie 4.0“ wurde die digitale Transformation vor elf Jahren als „vierte industrielle Revolution“ ausgerufen. Was ist aus der digitalen Revolution geworden? Wo steht die deutsche Industrie in Sachen Digitalisierung? Wir haben Experten der Open Industry 4.0 Alliance befragt.

Autor: Armin Barnitzke

Der revolutionäre Impetus der „vierten industriellen Revolution“ ist inzwischen einer guten Portion Realismus, Pragmatismus und auch Ernüchterung gewichen: „Industrie 4.0 wurde als eine Revolution angekündigt, hat sich jedoch als Evolution entpuppt“, sagt beispielsweise Nils Herzberg, Sprecher des Vorstands der Open Industry 4.0 Alliance und Global Head Strategic Partnerships for Digital Supply Chain and Industry 4.0 bei SAP.

Auch nach Einschätzung von Marius Grathwohl, Chairman Industry Focused Workgroups der Open Industry 4.0 Alliance und Vice President Digital Products and Transformation beim Verpackungs-Maschinenbauer Multivac, befindet sich die industrielle (R)Evolution noch immer in der Phase der Exploration und Pilotierung. „Cyber-physische Systeme sind noch nicht breit im Einsatz. Aber es werden die Grundlagen dafür geschaffen. Maschinen werden mit der für Konnektivität notwendigen Infrastruktur ausgestattet.“ Erstaunlich viele Firmen seien derzeit allerdings immer noch damit beschäftigt, zunächst mal eine traditionelle IT-Anbindung des Shopfloors mit MES- und SCADA-Systemen zu realisieren.

Keine Interoperabilität

„Der Digitalisierungszug kommt nur langsam in Fahrt“, bestätigt Dr. Christian Liedtke, Chairman Membership & Sales bei der Open Industry 4.0 Alliance und Head of Strategic Alliances bei Kuka: „Es gibt viele Lösungen, aber keine Interoperabilität – also keine Fähigkeit, das Zusammenspiel unterschiedlicher Maschinen und Komponenten unter Einhaltung gemeinsamer technischer Standards auf die Schiene zu bringen.“

Woran das liegt? Nach Liedtkes Beobachtung finden sich eben viele Unternehmen mit der derzeitigen Situation ab. „Die Prozesse laufen ok – sie sind in vielen Branchen vor allem mit Blick auf Europa schon sehr ausgereift.“ Zudem hätten erste Pilotanwendungen der Industrie 4.0 oft nur marginale Verbesserungen aufgezeigt. Aber das sei auch kein Wunder: „Individuelle Verbesserungen können Engpässe nur von einer Maschine zur nächsten verschieben“, so Liedtke: „Es braucht prozess- und fabrikübergreifende Lösungen, die IoT gesamtheitlich betrachten. Nur so können sich Mehrwerte entwickeln.“

Silodenken aufbrechen

Um dieses Ziel zu erreichen, muss die deutsche Industrie aber über ihren Schatten springen und Kooperationen eingehen: „Denn durch die schnellen technologischen Weiterentwicklungen sind einzelne Unternehmen, egal wie groß sie sind, nicht in der Lage, die Digitalisierung allein zu stemmen“, betont Liedtke. Genau hier setze der Gedanke der Open Industry 4.0 Alliance als Umsetzungsallianz an. „Wir wollen, dass der Digitalisierungszug an Fahrt aufnimmt. Deswegen setzen wir in der Allianz auf Offenheit. Silodenken muss der Vergangenheit angehören.“

Ziel der Allianz sei es daher, Vertrauen zu schaffen. „Gelingt es uns als Allianz anhand einfacher Use-Cases, den Mehrwert der Zusammenarbeit zu verdeutlichen, können wir den nächsten Schritt machen: Wir wollen uns an die Wertschöpfungsnetzwerke herantrauen und damit endlich die Potenziale tatsächlich realisieren, von denen man seit elf Jahren Industrie 4.0 träumt.“

Standards umsetzen

Technische Standards wie OPC UA sind dafür natürlich die Basis, aber noch nicht die Lösung. SAP-Mann Herzberg: „Entscheidend für den Erfolg von Industrie 4.0 ist nicht die Existenz der Standards an sich, sondern deren Umsetzung in den Maschinen und der Software.“ Und auch hier hapert es. Aus Sicht von Ekrem Yigitdoel, Managing Director der Open Industry 4.0 Alliance, „sind die heutigen Standards noch nicht vollumfänglich in der Breite angekommen.“ Dabei brauche man doch eine IoT-Architektur, die für Interoperabilität und Datenaustausch sorge, um die gesammelten Daten wirklich zum Leben zu erwecken. Der wahre Datenschatz der Industrie 4.0 lässt sich also erst heben, wenn in einem großen Bild alles ineinandergreift – intern sowie firmenübergreifend.

Dennoch raten die Digitalisierungsexperten zu einem Weg der kleinen Schritte. Dr. Andrea Rösinger, Chief Technology Officer des Softwarehauses Forcam: „Unternehmen sind gut beraten, wenn sie die digitale Transformation der Fabrik in kleinen überschaubaren Schritten planen und zunächst mit einem Pilotprojekt starten. So kann die Hauptproduktion ungestört weiterlaufen und die Teams können Erfahrungen sammeln.“

Übergreifendes Change-Team

Gleichzeitig sollte ein bereichsübergreifendes Change-Team den Gesamtprozess von Anfang an gemeinsam planen und dabei den späteren Rollout ebenso vorausdenken wie die Integrationsfähigkeit der IT-Architektur für künftige Anwendungen, beispielsweise KI.

„Das Change-Team sollte Ziele formulieren, eine Phasenplan erstellen, leistungsstarke IT-Lösung suchen, gewünschte Kennzahlen wie die Gesamtanlageneffektivität (OEE) definieren, eine neue Regelkommunikation einführen, Pilotprojekt starten und Rollout planen“, sagt Rösinger.

Die wichtigsten technologischen Etappen einer erfolgreichen digitalen Reise sind für Rösinger ein Dreisprung:

1. (unterschiedliche) Maschinen digital anbinden,

2. Big Data in Echtzeit in Smart Data wandeln,

3. (vorhandene wie neue Systeme) integrieren und komponieren.

Wichtig ist für Rösinger aber auch, dass die digitale Transformation nicht nur als Frage der Technik betrachtet wird, sondern auch als eine der Führung: „Erfolgreiche Industrie 4.0-Projekte zeichnen sich durch eine offene und vitale Führungs- und Kommunikationskultur 4.0 aus. Heißt: Auf allen Ebenen erklären die Führungskräfte Ziele und Maßnahmen, fangen Kritik und Sorgen auf und beziehen Ideen der Belegschaft mit ein.“

Vorgehen im Brownfield

Trotzdem bleiben natürlich – gerade zu Beginn und insbesondere in Brownfield-Produktionen – ganz pragmatische Fragen: Beispielsweise die Frage, wie man Bestandsanlagen fit für die Digitalisierung macht. „Denn die digitale Anbindung sämtlicher Maschinen in einer Fertigungslogistik ist die Basis für eine erfolgreiche digitale Transformation in Unternehmen. Daher sollte jeder Maschinentyp, unabhängig von Hersteller, Typus und Jahrgang, digital abbildbar sein“, sagt Rösinger.

Dabei gibt es grundsätzlich zwei Wege, um Bestandsanlagen digital anzubinden:

  • In älteren Umgebungen – vor allem bei Maschinen, die nicht für eine Netzwerkkommunikation ausgestattet sind – bietet sich der Retrofit-Ansatz mit separater Hardware an, „so dass durch den Sensorik-Einsatz Daten erfasst und übermittelt werden können“, sagt Ricardo Dunkel, Technical Director der Open Industry 4.0 Alliance.
  • Bei Maschinen mit netzwerkfähiger Steuerung erfolgt die Anbindung über IoT-Softwareadapter – also Plugins für die Maschinensteuerung, die entweder beim Hersteller verfügbar sind oder individuell programmiert werden müssen. „Dabei gilt es, die unterschiedlichen Daten und Protokolle inhaltlich zusammenzubringen, um die Informationsvielfalt zu harmonisieren“, so Dunkel.

Gerade in Bestandsumgebungen sei es aber wichtig, die vorhandene System- und Datenarchitektur im Blick zu behalten und die für die digitale Erweiterung vorhandenen Lösungen zu identifizieren sowie mit dem Bestehenden effizient zu kombinieren, schließt Ekrem Yigitdöl. „Die Hauptstraße ist im Brownfield-Ansatz also in irgendeiner Form vorgegeben.

Sobald dann die Reiseroute und das Reisemobil gewählt werden, müsse das Unternehmen entscheiden, worauf es ihm ankomme. „Und die Zwischenziele der Reise sollten so gewählt werden, dass diese schnell und effizient erreichbar sind“, so Yigitdöl. Wohin die digitale Reise aber insgesamt führen wird, bleibt abzuwarten. Denn klar ist für Kuka-Mann Liedtke auch: „IoT-Projekte sind ein Weg. Man muss akzeptieren, dass IoT-Projekt keinen Anfang und kein Ende haben.“

Open Industry 4.0 Alliance

https://openindustry4.com/de/


13 Tipps für den IoT-Erfolg

Wie werden IoT-Projekte zum Erfolg? Hendrik Nieweg (Executive Vice President Solutions für IoT bei Device Insight), Dr. Christian Liedtke (Head of Strategic Alliances bei Kuka) und Bastian Jehl (IoT Solution Engineer bei Kuka) geben Tipps:

  • Besetzen Sie das Projektteam interdisziplinär. IoT-Projekte funktionieren nur abteilungsübergreifend.
  • Binden Sie die Personen ein, die täglich mit den Maschinen arbeiten. Sie wissen am besten, wo optimiert werden kann.
  • Fokussieren Sie sich auf einen Use-Case. Suchen Sie nicht nach dem perfekten Use-Case, sondern fangen Sie einfach an.
  • Beachten Sie: IoT-Projekte sind die Königsdisziplin und hochkomplex.
  • Betreiben Sie Erwartungsmanagement. Losgelöste IoT-Projekte garantieren nicht die nächste Millioneneinnahme.
  • Nehmen Sie sich Zeit für die Auswahl Ihrer Projektpartner. Zu viele Parteien führen nicht immer zur besten Lösung.
  • Arbeiten Sie agil. Zwängen Sie IoT-Projekte nicht in bestehende (Produkt)-Entwicklungsprozesse.
  • Seien Sie bereit zu investieren. Und holen Sie sich die Rückendeckung des C-Levels. Begeistern Sie Ihren CEO und den CFO.
  • Akzeptieren Sie, dass IoT-Projekte keinen Anfang und kein Ende haben. IoT-Projekte sind ein Weg.
  • Berücksichtigen Sie immer den Kunden. Seine Anforderungen stehen im Mittelpunkt. Setzen Sie daher auf Market-Pull und nicht auf Technology-Push.
  • Fokussieren Sie sich auf den Proof-of-Value und nicht auf den Proof-of-Concept.
  • Orientieren Sie sich an Industriestandards.
  • Fragen Sie jemanden, der sich damit auskennt. Profitieren Sie von den Erfahrungen, die andere bereits gemacht haben.

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