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WGP: Künstliche Intelligenz in der Produktionstechnik

Interview: Prof. Dr.-Ing. Berend Denkena, Präsident der WGP
Denkena: „KI spielt in der Produktionstechnik eine zunehmende Rolle“

Denkena: „KI spielt in der Produktionstechnik eine zunehmende Rolle“
Prof. Berend Denkena, Präsident der WGP, leitet das Institut für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) an der Leibniz Universität Hannover. Bild: IFW Hannover
Wie die Automation der Zukunft aussieht, welche Rolle die künstliche Intelligenz in der Produktionstechnik spielt und was das für die Mitarbeiter bedeutet, verrät Prof. Dr.-Ing. Berend Denkena, Präsident der WGP – Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik.

Autor: Armin Barnitzke

Wie sieht für Sie die Future Automation aus?

Denkena: Wir denken, dass die Automation der Zukunft intelligenter, kollaborativer und autonomer werden wird. Aktuell sind die verwendeten Anlagen und die zugehörige Automation noch sehr aufwändig hinsichtlich der erforderlichen Rüst-, Einfahr- und Teachprozesse. Es geht darum, diese Prozesse zu vereinfachen, um die Technik flexibler, das heißt auch bei kleineren Stückzahlen beziehungsweise Losgrößen nutzen zu können. Diese Anforderungen stellt der Markt für Produktionsanlagen sehr eindeutig.

Welche Trends und Technologien sollten Produktionsverantwortliche besonders im Auge behalten?

Denkena: Wichtig erscheint uns, insbesondere vor dem Hintergrund einer Durchgängigkeit, die Schnittstellen zwischen Teilsystemen im Auge zu behalten. Offene Systeme sind zu bevorzugen, um zukünftige Erweiterungen sicherzustellen. Anforderungen stellen zum Beispiel die Durchgängigkeit in der Prozesskette zur Herstellung von Produkten einschließlich zugehöriger Betriebsdatenerfassung und Auswertung, die komplette Herstellung in kompakten Geräten sowie die flexible Robotik. Die verwendeten Anlagen werden in den nächsten Jahren intelligenter werden – vielleicht noch nicht autonom, aber wir werden einen deutlichen Schritt in Richtung Autonomie gehen. Hierfür sollten sich Produktionsverantwortliche rüsten, auch im Hinblick auf Schulungen des eigenen Personals.

Welche Rolle spielt der Mensch noch in der Smart Factory der Zukunft?

Denkena: Wir sind davon überzeugt, dass die Arbeitsplätze innovativer und kreativer als heute sein werden. Auch in den kommenden zehn Jahren wird es noch viele Aufgaben geben, die sich nicht oder nur mit extrem hohem Aufwand automatisieren lassen. Hierfür bietet der Einsatz von gut geschulten Mitarbeitern immer noch die beste Alternative, auch mit Blick auf das Verhältnis von Aufwand zu Kosten. Vermutlich wird es hier eine Verschiebung geben – hin zu Dingen, bei denen der Aufwand bisher noch zu hoch für eine Automatisierung war. Insgesamt glauben wir aber nicht an die Smart Factory ohne Menschen, denn der Mensch ist immer noch deutlich flexibler und kann verglichen mit entsprechenden Anlagen auch sehr schnell lernen und ausgewogene Entscheidungen treffen.

Wie müssen wir in der Ausbildung der Mitarbeiter auf die sich ändernden Anforderungen reagieren?

Denkena: Es ist klar, dass wir auch in Zukunft sehr gut ausgebildete Mitarbeiter brauchen, die hoch motiviert und kreativ Herausforderungen angehen. Wichtig sind nicht nur praktische Fähigkeiten in der Umsetzung, sondern auch theoretische Grundlagen in der Mechanik, Elektrik, Steuerungstechnik und Informatik. Hier wird es auch darum gehen, Mitarbeiter, die schon länger in der Praxis stehen, weiterzubilden. Dies erfordert die Kraft der Unternehmen beziehungsweise Bereitschaft der Unternehmer, Mitarbeiter auch tatsächlich hierfür freizustellen. Ein wesentlicher Punkt, der vermutlich auch immer wichtiger werden wird, ist die Kommunikation über Fachgrenzen hinweg. Und der Mut, auf andere zuzugehen und in enger Kooperation mit anderen, zum Beispiel Produktionstechniker und Informatiker, die Herausforderungen zu lösen. Auch hier können gezielte Schulungen helfen.

Besonders im Fokus steht derzeit die künstliche Intelligenz: Welche Rolle spielt KI in der Future Automation?

Denkena: Grundsätzlich ist die KI ja nicht neu, auch wenn sie aktuell stark gehypt wird. In meinem Institut sind bereits vor etwa 30 Jahren Arbeiten zur Produktionsplanung mit künstlichen neuronalen Netzen durchgeführt worden. Im Unterschied zu damals können die Systeme heute aber – aufgrund der zur Verfügung stehenden größeren Datenmengen, den Möglichkeiten zur Verarbeitung dieser Daten und zur Speicherung – auf bessere Grundlagen etwa zum Antrainieren zurückgreifen. Diese Datenverfügbarkeit wird aufgrund von Industrie 4.0 weiter steigen, sodass wir davon ausgehen, dass KI in der Produktion eine zunehmende Rolle spielt.

Wie autonom, selbstlernend und selbststeuernd können Maschinen und Produktionsanlagen in absehbarer Zeit tatsächlich werden?

Denkena: Zunächst sollte man überlegen, was unter Selbstlernen und Selbststeuern gemeint ist. Anleihen können hierfür genommen werden in der Automobilindustrie, die die Schritte hin zu autonomen Fahrzeugen und deren Fähigkeit in einem Stufenmodell beschreibt. Das Gleiche hat jüngst die WGP im Rahmen ihres Standpunktpapiers Industriearbeitsplatz 2025 für die Stufen der Automatisierung von Produktionsanlagen getan.

Und wie sehen diese Stufen in Richtung Autonomie aus?

Denkena: Wir gehen davon aus, dass – wie bei Kraftfahrzeugen – zunächst Assistenzsysteme zur Unterstützung der Automatisierungs- beziehungsweise Produktionssysteme entwickelt und eingesetzt werden. Diese können dann in einem späteren Schritt verknüpft werden und Autonomie ermöglichen. Die WGP-Institute haben in verschiedenen Forschungsprojekten gezeigt, dass eine gewisse Autonomie in Bearbeitungsprozessen, etwa zur Kompensation von Werkzeugverlagerungen, aufgrund integrierter Sensorik und entsprechender Algorithmen möglich ist. Hierdurch lassen sich Einfahr- und Rüstprozesse deutlich verkürzen. Ich gehe davon aus, dass wir entsprechende Anlagen innerhalb der nächsten zehn Jahre am Markt sehen werden.

Wo sehen Sie die Hürden für einen KI-Durchbruch in der Produktion?

Denkena: In Gesprächen mit Unternehmern hören wir immer wieder, dass dort große Sorge vor einem Abfluss von Knowhow besteht. Dies wird vermutlich die größte Hürde sein. Eine weitere Hürde ist die Standardisierung von Datenformaten, sodass die Weiterverarbeitung aufwändig ist. Und schließlich fehlt es auch weiterhin häufig am Verständnis für die Zusammenhänge zwischen den aufgenommenen Daten und den tatsächlich vorliegenden Ursachen. Ein Beispiel ist die zuverlässige Vorhersage, dass ein Wälzlager in den nächsten 24 Stunden ausfallen wird.

Und jenseits der Technik?

Denkena: Wir sind überzeugt, dass die Herausforderungen nur durch ein enges Zusammenwirken von Prozess- bzw. Produktionsfachleuten und IT-Fachleuten bewältigt werden können. Um das Thema Ausbildung noch einmal aufzugreifen: Hier muss eine Kommunikation über Fächergrenzen hinweg möglich sein. Die Probleme können nur gelöst werden, wenn sich die unterschiedlichen Mitarbeiter auf ein gemeinsames Vokabular einigen können.

Ist oder wird Software der entscheidende Innovationstreiber in der Produktionstechnik?

Denkena: Als WGP sagen wir hierzu eindeutig: Nein! Die Basis wird auch weiterhin eine innovative Technologie, beispielsweise über neue Umform- oder Montageprozesse sein. Software ermöglicht dann eine Verbesserung dieser Prozesse, etwa hinsichtlich Flexibilität, Qualität und Transparenz. Wir wissen, dass mindestens seit den 1970er Jahren in der Produktionstechnik die Software eine wesentliche Rolle in der Automatisierung spielt. Die hochentwickelte Leistungsfähigkeit von Software wird sich auch weiterhin verbessern. Ermöglicht wird dies natürlich auch durch die Weiterentwicklung der Hardware.

Inwieweit werden modulare Softwarebaukästen und Apps die heutige Steuerungssoftware ablösen?

Denkena: Als Maschinenbauer lernt man, dass Baukastensysteme große Vor-, aber auch Nachteile haben können. Einfache Varianten tragen Aufwände, die ansonsten erst in höheren Ausbaustufen erforderlich sind. Die Planung der Standardisierung und schlussendlich ihre Ausführung kosten zusätzliches Geld. So müssen auch spätere Varianten mitgedacht werden, damit diese Baukästen über eine längere Zeit gehalten werden können. Dies sind Nachteile. Auf der anderen Seite gibt es Vorteile, wenn ein breiteres Spektrum an Anforderungen abzudecken ist. So ist es nach unserer Überzeugung auch im Bereich der Software. Hier macht es nach unserer Überzeugung durchaus Sinn, die Standardisierung zu verfolgen, diese sollte jedoch nicht den schnellen Fortschritt technischer Entwicklungen aufhalten.

Und welche Rollen spielen Cloud und IoT-Plattformen?

Denkena: Wir gehen nicht davon aus, dass Produktionsprozesse und -maschinen künftig aus der Cloud gesteuert werden können. Es stehen unter anderem die Sicherheit der Abläufe und der Echtzeit im Wege. Dezentrale Intelligenz besitzt hier deutliche Vorteile. Viel eher vorstellbar ist, dass Cloud-Systeme und IoT-Plattformen als Basis für das Kumulieren von Daten und deren Analyse verwendet werden, wenn – wie oben gesagt – die aktuell bestehenden Sicherheitsbedenken glaubwürdig ausgeräumt werden können.

Ein weiteres Hype-Thema ist derzeit die additive Fertigung: Welche Rolle spielt die additive Fertigung in der Fabrik der Zukunft?

Denkena: Insgesamt sind wir davon überzeugt, dass die additive Fertigung interessante Freiheitsgrade bietet, die in der Zukunft auch genutzt werden können. Allerdings vermutlich nicht in der Breite, wie häufig prognostiziert. Man denke nur an die Aufgabe, hochfeste Bauteile ohne Verzug und in hohen Oberflächenqualitäten herzustellen. Bisher sind häufig noch Nachbearbeitungen von Funktionsflächen beziehungsweise auch der äußeren Geometrie aufgrund von Kerbwirkungen notwendig. Hier gibt es Herausforderungen, die sicherlich in den nächsten Jahren Schritt für Schritt günstiger dargestellt werden können. Bis zu diesem Zeitpunkt werden die additiven Verfahren intensiv eingesetzt werden können zur Herstellung von Prototypen.

Und wie sieht es in puncto additive Serienfertigung aus?

Denkena: Anwendungen in Serie lohnen sich bisher nur bei Bauteilen, die einem extremen Leichtbauzwang unterliegen oder die durch andere Fertigungsverfahren bisher gar nicht herstellbar sind. Gegenüber konventionellen Prozessketten, zum Beispiel bestehend aus einem Zusammenwirken von Gießverfahren und subtraktiver Fertigung, bestehen in der Regel noch deutliche Kostennachteile. Trotzdem macht es Sinn, die Technologie weiterzuentwickeln und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Der ganz große Durchbruch der Technologie in den oben genannten Bereichen wird aber noch etwas auf sich warten lassen.

Wo wird additive Fertigung herkömmliche Fertigungsverfahren ablösen?

Denkena: Ich empfehle sehr, immer das Verhältnis von Aufwand zu Nutzen genau zu betrachten. Und hier haben additiv gefertigte Bauteile wie gesagt in der großen Breite noch deutliche Nachteile. Im Bereich des Ultraleichtbaus oder bei Stückzahl eins beziehungsweise bei Bauteilen, die sich konventionell nicht herstellen lassen, ist der Einsatz sinnvoll, denn er kann auch gerechnet werden. Entscheidend an dieser Stelle ist auch, dass Konstrukteure sich mit den Möglichkeiten, die additive Fertigung bietet, vertraut machen. Denn additive Fertigung ermöglicht Freiheitsgrade, die auch zu neuen Bauteilgestaltungen führen können. Ein schönes Beispiel ist aus meiner Sicht die Herstellung innerer Strukturen, wie Bohrungen oder anderer Hohlräume, die entweder für Gewichtseinsparungen oder für bestimmte Funktionen notwendig sind.

Welche Rolle spielt die Automation in der additiven Fertigung?

Denkena: Hier stellt meiner Ansicht nach insbesondere das überschüssige Pulver eine Herausforderung. Die additiv gefertigten Bauteile sind aus dem Arbeitsraum zu entfernen und hierbei kann teilweise lungengängiges Pulver freigesetzt werden. Auch müssen häufig Stützstrukturen entfernt werden. Bisher ist an dieser Stelle der Mensch aufgrund seiner Flexibilität kaum zu ersetzen. Allerdings wäre natürlich auch hier die Automation von Vorteil, insbesondere wenn es um die Herstellung größerer Serien geht.

Ist die Nachbearbeitung von additiv gefertigten Bauteilen bereits reibungslos in die Prozesse integriert?

Denkena: Nein, hier herrscht auch weiter Handlungsbedarf. Für die Fertigung müssen die tatsächliche Geometrie der gefertigten Bauteile, die zur Verfügung stehenden Aufmaße sowie Auflagepunkte für das Spannen zur Verfügung stehen. Allerdings wird an diesem Punkt gearbeitet und die Probleme sind nach meiner Einschätzung kurzfristig auch in eine digitale Prozesskette, bestehend aus der additiven Fertigung und der Nachbearbeitung, integrierbar.

WGP – Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik e.V.

https://wgp.de


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